Marisha Pessl - Die Amerikanische Nacht

Wortwanderin | 13. Februar 2014 | / / / / / |





Marisha Pessl kann man nur lieben oder hassen. Dazwischen scheint es nichts zu geben. Die Meinungen über ihre Bücher gehen weit auseinander und mein Einstand mit ihr war auch nicht wirklich geschmeidig. "Die alltägliche Physik des Unglücks", ihr Debüt, präsentierte sich als handlungsarme Zitatschleuder. Jeder zweite Satz unterbrochen von Verweisen und den klugen Worten fremder Autoren. Nein, das Buch war nicht einfach. Der kaum vorhandene Plot versteckte sich unter dem Mantel der Belesenheit und ließ Pessl wie die personifizierte literarische Arroganz wirken. Als ich jedoch in der Bücherei an ihrem neuen Roman "Die amerikanische Nacht" vorbei ging, konnte ich nicht anders, als dem Wälzer eine Chance zu geben.





Scott McGrath ist Investigativjournalist und hatte in den letzten Jahren viel Pech. Erst fiel er auf einen falschen Informanten herein und verzettelte sich bei seiner Berichterstattung, woraufhin sein Ruf ruiniert war. Dann verließ ihn auch noch seine Frau und nahm die gemeinsame Tochter mit. Doch McGrath ist ein Beißer, jemand, der nicht loslassen kann. Noch immer besitzt er sämtliche Unterlagen zu seinem damaligen Fall. Dieser behandelte Stanislas Cordova, einen Regisseur grausiger Horrorstreifen, die auf den Zuschauer eine sogartige Wirkung haben. Der Schatten, das Phantom Cordova kreist wie eine dunkle Bedrohung über McGrath, seiner Karriere. Inzwischen ist Ashley, Cordovas Tochter, tot aufgefunden worden. Doch McGrath will nicht an einen Selbstmord glauben. Er beschließt, den Fall erneut aufzurollen.


Nachdem ich nun tagelang in diesem Roman abgetaucht war, ist es schwer, eine klare Linie in die Rezension zu bringen. Warum? Dieses Buch ist ein Monster. Es ist dick, vielschichtig, überraschend, packend, widerlich, schön. Es reißt dich mit, dreht dein Innerstes nach Außen und spuckt dich als nach mehr gierendes Wesen wieder aus. Wenn es vorbei ist, bist du froh, aber dir fehlt etwas. Du willst mehr, obwohl du weißt, dass es dir schaden könnte. Dem Leser geht es wie Scott McGrath. Er wird zu ihm.

Marisha Pessl ist ein Meisterwerk gelungen. Schon nach wenigen Seiten, sobald man sich mit dem eher hölzernen Scott angefreundet hat, ist man in der Geschichte. Sie wird so lebendig, so greifbar, dass die Umgebung völlig verschwindet. Die Sprache ist leicht zugänglich, direkt und verzichtet völlig auf kreative Erzählweisen, wie man es aus dem Debüt kannte. Doch kreativ wird man auf andere Weise: Das gesamte Werk ist immer wieder gespickt mit Bildern fiktiver Webseiten, Zeitungsausschnitten, Auszügen aus Akten. Diese werden meisterhaft in die Handlung eingewoben, fungieren als spannende Ergänzung zur eigentlichen Geschichte.



Fotos aus der Originalausgabe


Was zu Beginn aussieht, wie ein spannender, aber eben auch gewöhnlicher Thriller, mutiert Stück für Stück zu einem Wahnsinnstrip irgendwo zwischen Thriller, Horror, Mystery und klassischem Roman. Es ist unmöglich diese Mischung näher zu beschreiben, ohne die Handlung vorweg zu nehmen. So wie in der Geschichte selbst, ist hier nichts, wie es scheint.

Pessl nimmt dabei den Leser bei der Hand und folgt einem klaren roten Faden, an dem sie sich entlang hangelt. Neue Beweise, überraschende Wendungen, alles passiert nach und nach. Und so stürzt man gierig von Seite zu Seite und verliert sich völlig in der Ermittlung. Wird immer tiefer hinein gezogen in diese düsteren Hintergründe, die einen an seine eigenen Grenzen bringen und das Dunkel im Herzen herauf beschwören. Besonders eindrucksvoll gestaltet die Autorin den Höhepunkt und das Ende. Man möchte beinahe wahnsinnig werden, um sich schlagen, flehen es möge aufhören. Es möge nicht zu Ende sein. Man weiß es nicht, es hat einen gepackt.

Cordova selbst ist die am hellsten, oder düstersten, leuchtende Figur in diesem Buch. Marisha Pessl ist mit seiner Erschaffung eine Höchstleistung gelungen. Denn der Regisseur ist entsetzlich echt und macht neugierig. Ich ertappte mich dabei, wie ich seinen Namen googlete. In der Hoffnung (oder Angst?) er sei real. Ich wollte einen Beweis, Hinweise auf seine Filme, irgendwas. Ich fand nichts und fühlte mich merkwürdig enttäuscht. Die Gestalt Cordova überstrahlt. Zum Glück, denn McGrath und seine Ermittlungshelfer Nora und Hopper sind leider etwas flach gezeichnet. Man gewöhnt sich daran aber schnell und sieht sie eher als Figuren, die eben mitfahren müssen auf diesem irren Ritt, statt aktiv einzugreifen. So wie der Leser. Das ist Cordova, das ist "Die amerikanische Nacht".


Dieses Buch hat mich erschüttert. Es hat mich überrascht und mich sogartig aus der Welt bugsiert. Selten war ich so gut unterhalten, so gebannt. Und selten hat mich ein Buch dazu gebracht, mich vor mir selbst zu fürchten. Marisha Pessl präsentiert mit diesem 800 Seiten Werk eine Sensation auf dem Buchmarkt. Dieser Thriller ist ganz großes Kino und vermutlich das beste, was ich in diesem Genre seit Jahren gelesen habe. Ich bin restlos begeistert. 5 von 5 Blättern und ein Sternchen obendrauf. Es bestürzt mich, meine Ausgabe an die Bücherei zurückgeben zu müssen. Ich will es nicht, fühle mich beraubt. Demnach werde ich ganz schnell mein eigenes Buch kaufen. Es geht nicht anders.





Titel: Die amerikanische Nacht
Autor: Marisha Pessl
Originaltitel: Night film
Genre: Roman, Thriller, Mystery
Verlag: S. Fischer
Seiten: 800
Preis: 22,99€ (gebundene Ausgabe) | 19,99€ (Kindle Edition) | ab 15€ als Audiobook | bisher nicht als TB
Verfilmung: In Planung




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Cover ©S. Fischer | Foto aus Originalausgabe: ©nishitak.com

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