Diskussion: Lesen ist schwul

Wortwanderin | 21. November 2013 | |
Hallo miteinander,

vor wenigen Tagen stellte der deutsche Booktuber Toby in seinem Kanal Büchergewusel folgendes Video online:


Hierin erzählt er von einem männlichen Zuschauer, der sich in seiner Verzweiflung an ihn gewandt hat.
Der namentlich nicht erwähnte Zuschauer ist körperlich behindert und leidenschaftlicher Leser, sieht sich aber deswegen Hänseleien und Beleidigungen ausgesetzt. Denn der gängigen Meinung nach ist Lesen eindeutig was für Mädchen, und alle Jungs, die zum Buch greifen müssen folglich schwul sein.

Der Fall hat mich wirklich getroffen. Ich schwankte zwischen Wut und Entsetzen. Und um das zu kanalisieren, habe ich beschlossen, mich an Tobys Diskussion dazu zu beteiligen. Auch wenn ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.

Ist Lesen schwul? Nein, sicher nicht. Jeder Junge, der sich dieser Beleidigung stellen muss, darf der Behauptung bitte keinen Glauben schenken. Ja, es ist richtig, dass der Anteil lesender Frauen in der Bevölkerung größer ist als der lesender Männer. Aber eine Wertschätzung des geschriebenen Wortes bedeutet nicht automatisch Homosexualität. Wer dies behauptet, ist sicherlich nicht einmal in der Lage, diesen Post auf Anhieb zu verstehen, da er Satzkonstrukte und Worte beinhaltet, die man nur dann auf Anhieb versteht, wenn man sich durch das Lesen gebildet hat.

Abgesehen von der steigenden Auffassungs- und Kombinationsgabe, führt es automatisch dazu, dass man sich besser ausdrücken kann. Und jemand, der in diesen Zeiten über eine gute Sprache verfügt, der hat grundsätzlich schon gewonnen. Denn sie wird als intelligent angesehen, was dazu führt, dass man sein Gegenüber vielleicht sogar mehr wertschätzt und respektiert. Und wer möchte das nicht?

Darüber hinaus ist das geschriebene Wort ein Zeichen von Macht. Wer es beherrscht, versteht und anwenden kann, erreicht die Menschen so sehr, wie ein guter Redner. Er kann Menschen und Herzen bewegen, manchmal sogar über seinen Tod hinaus. Wer sich von dieser Macht berauschen lässt, darin abtaucht und genießt, ist ein offener, weiser Mensch - im Gegensatz zu den elend verkappten Denkern, die sich selbst ihrer Möglichkeiten berauben, weil sie meinen sie seien unpassend.

Jemanden für sein Hobby zu hänseln, ihn sogar dazu zu bringen, an sich selbst zu zweifeln; wer das macht, der kann kein guter Mensch sein. Und will es auch nicht werden. Denn dann müsste ja ein Umdenken stattfinden und dazu sind die Ansichten meist schon viel zu gefestigt. Dagegen hilft kein Reden, kein Rechtfertigen. Ich weiß, in der Schule kann es manchmal wirklich furchtbar sein für die, die nicht in die Masse passen. Man kann den Mobbern nicht aus dem Weg gehen, die Pausen werden zum Höllentrip, der Körper reagiert mit psychosomathischen Beschwerden. Das einzige, was dagegen hilft, sind Menschen, die einen unterstützen und die einem Halt bieten. Ein Freund, der dir sagt, dass er dich so mag, wie du bist, hat mehr Wirkung als fünf Volltrottel, die sich nicht weiterentwickeln wollen. Man darf sich von solchen Leuten nicht unterkriegen lassen.

Im Fall aus Tobys Video ist der Umstand ja noch viel härter, denn der gehänselte Schüler ist behindert.
Er kann also nicht so über seinen Körper verfügen, wie die, die ihn hänseln. Oder wie er ihn gerne benutzen möchte. Dass man in einer solchen Situation wie dieser, Zuflucht in den Büchern sucht, ist mehr als verständlich. Dort kann man frei sein, seine Einschränkung vergessen, einfach ganz normal sein und Glück finden. Das größte Entsetzen bereitet mir zweifelsohne der Fakt, dass sich mehrere Leute abwertend gegenüber einem Behinderten benehmen. Weil er liest. Was sind das für Menschen? Was ist da schief gelaufen, dass sie so geworden sind? Offenbar ist ihnen gar nicht klar, was für eine grauenhafte Tat sie da begehen. Hier ist es wichtig, sich einer Lehrkraft zu öffnen, die Situation zu schildern. Das Thema direkt in einer Diskussionsrunde im Unterricht auf den Tisch zu bringen. Es darf hier nicht akzeptiert und hingenommen werden. Das kostet zwar Kraft, setzt aber ein Zeichen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solches Verhalten von seiten der Lehrkräfte toleriert würde. Dazu ist es zu vielschichtig.

Ich hoffe für den Schüler, dass er Menschen im Umfeld hat, die ihn so lieben, wie er ist. Und die ihm erklären, warum Lesende so viel Kraft besitzen. Dass es wichtig ist, zu lesen und dass er sich das, was er so gerne mag, niemals von irgendwelchen Idioten schlecht reden lassen darf. Er ist jetzt schon stärker als sie, obwohl er behindert ist.

Wortwanderin

linkwithin